Das Raketenabwehrsystem verschieben und neu überdenken

2. März 2009
Von Ondrĕj Liška
Von Ondrĕj Liška

Das nationale amerikanische Raketenabwehrsystem sieht eine europäische (oder „dritte“) Säule vor, die die Aufgabe haben soll, die Vereinigten Staaten von Amerika (und indirekt auch ihre Verbündeten) vor einem möglichen Raketenangriff zu schützen. Das amerikanische Raketenabwehrsystem ist seit den 1950er Jahren in den verschiedensten Varianten entwickelt worden, aber erst die Regierung des republikanischen Präsidenten George W. Bush hat es ausgebaut. Im Jahr 2001 haben die USA die Geldmittel für die Raketenabwehr aufgestockt und sich aus dem sowjetisch-amerikanischen ABM-Vertrag von 1972 zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen zurückgezogen.

Im Jahr 2002 haben die USA bilaterale Verhandlungen mit der tschechischen (damals sozialdemokratischen) Regierung über die eventuelle Installierung einer US-Radarstation in der Tschechischen Republik aufgenommen. Gleichzeitig begannen die USA auch Verhandlungen mit Polen, um dort einen Teil ihres Raketenabwehrsystems zu positionieren. Erwähnen sollte man ebenfalls, dass ursprünglich auch Ungarn als möglicher Standort für einen Teil des amerikanischen Raketenabwehrsystems in Betracht gezogen wurde. Diese Streuung amerikanischer Militärbasen über die Länder des ehemaligen Warschauer Pakts (statt einer Konzentration dieser Elemente in einem einzigen Land, das vielleicht schon eine US-Militärbasis beherbergt) deutet darauf hin, dass in den Entscheidungen der amerikanischen Regierung möglicherweise ein geopolitischer Faktor eine Rolle spielte.

Die Debatte in der Tschechischen Republik

Die öffentliche Diskussion über die amerikanische Raketenabwehr und die Radarstation zeichnet sich vor allem durch eine hohe Emotionalität aus, die Gegner wie Befürworter zum Nachteil einer tatsachenorientierten oder pragmatischen Diskussion erheblich polarisiert hat. Extremer Antiamerikanismus kollidierte mit einer tiefsitzenden Russophobie, während ein naiver Pazifismus gegen einen messianischen Glauben in die Politik der Stärke stand. Die Argumente für oder gegen die Radarstation nehmen zu oft Bezug auf die Vergangenheit und machen dabei von jedem erdenklichen Trauma der tschechischen Geschichte Gebrauch, anstatt in verantwortlicher Weise die Gegenwart und die Zukunft zu analysieren.

Tatsächlich ist in Tschechien ebenso wie in Polen Russland zum Gegenstand der Debatte geworden, nicht die angebliche Bedrohung des amerikanischen Systems durch die sogenannten „Schurkenstaaten“, wie die offizielle Begründung hieß. Die Befürworter der Radarbasis sehen eine mögliche amerikanische Präsenz auf tschechischem Territorium als wertvolle Sicherheitsgarantie und als Gipfelpunkt der postkommunistischen Transformation des Landes, die sie im Westen verankert. Die Gegner der Radarbasis lehnen ihrerseits jede enge (oder überflüssige) Anlehnung der tschechischen Außenpolitik an die eine oder andere Supermacht ab. Aus historischen Gründen trauen die Befürworter keinen Sicherheitsgarantien, die aus Europa kommen, und weisen auf die Nichtexistenz einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik hin, während die Gegner glauben, dass allein die Mitgliedschaft in der NATO und indirekt die in der EU ausreicht, um die Sicherheit des Landes zu garantieren.

Russland

Die russische Reaktion auf die amerikanischen Pläne muss bis zu einem gewissen Grad im Kontext der „neuen“ russischen Außenpolitik gesehen werden. Zwar stimmt es, dass die russischen Besorgnisse über die Auswirkungen der geplanten dritten Säule – das heißt, 10 Raketen in Polen und eine Radarbasis in der Tschechischen Republik – auf die russische Atommacht keine Grundlage haben, aber im Hinblick auf die zukünftige Gestalt des amerikanischen Systems, das sich erheblich vergrößern und verbessern könnte, trifft das nicht zu. Solche Besorgnisse sind noch verständlicher bei China, das nach eigenen Angaben gegenwärtig über weniger als 30 Interkontinentalraketen verfügt.

Die Art und Weise, in der die USA mit Russland über die Raketenabwehr kommunizieren und verhandeln (und in der Konsequenz davon auch mit der größeren internationalen Gemeinschaft), ist sogar noch wichtiger, denn man muss bedenken, dass sie entweder Vorwände für Russland schaffen oder diese im Gegenteil beseitigen, sich aus verschiedenen wichtigen Verträgen zurückzuziehen, sie nicht mehr zu erneuern oder unzureichende Verhandlungsbereitschaft zu zeigen, wie beim Washingtoner Vertrag über Mittelstreckenraketen (INF) von 1987 oder dem Vertrag zur Verringerung der strategischen Nuklearwaffen von 1991 (START). Die internationale Aufmerksamkeit, die Amerikas Pläne auf dem Feld der Raketenverteidigung begleitet, wird sich in den Gesprächen auf der Evaluationskonferenz zum Non-Proliferation Treaty (NPT) im Jahr 2010 widerspiegeln.

Die NATO und die Notwendigkeit einer breiter angelegten Politik

Während die meisten tschechischen Medien die Beschlüsse des NATO-Gipfels in Bukarest als „grünes Licht für die Radarstation“ interpretierten, verhält es sich in Wahrheit so, dass die beiden wichtigen Absätze des Bukarester Kommuniqués zur Raketenverteidigung ziemlich vage gehalten sind und in widersprüchlicher Weise ausgelegt und verstanden werden können. Die Tatsache, dass sich die Bündnispartner in der Frage der dritten Säule nicht vollständig einig waren und weiterhin nicht sind, erwies sich bei der Schwierigkeit, wie der Ausdruck „wesentlicher Beitrag“ zu verstehen sei (in Bezug auf die Vorteile, die die geplante dritte Säule für die Verteidigungskraft des Bündnisses brächte). Der Text des Kommuniqués verschob die politische Entscheidung über das Ausmaß, in dem die dritte Säule der amerikanischen Raketenabwehr in die NATO-Strukturen einbezogen werden soll, auf den Gipfel im April 2009 oder (höchstwahrscheinlich) sogar darüber hinaus.

Die Beschlüsse des Bukarester NATO-Gipfels erkennen die Existenz einer Bedrohung durch die Weitergabe ballistischer Waffen an. Sie unterstreichen aber auch, dass die Raketenabwehr nur Teil einer „breiter angelegten Antwort“ auf diese Bedrohung ist. Selbstverständlich stellt die Weitergabe ballistischer Waffen in sich selbst eine reale Gefahr dar, die zur Weitergabe von Atomwaffen hinzukäme. In diesem Zusammenhang müssen wir uns die Frage stellen, wie das Verhältnis von Raketenabwehr und der Verhinderung der Weitergabe atomarer Waffen aussieht. Wir müssen uns auch fragen, ob wir wirklich alles Menschenmögliche getan haben, um sicherzustellen, dass internationale Nichtauslieferungsverträge effektiv sind und die Abrüstung zügig vorangeht, oder ob effektive diplomatische und andere Kommunikationswege zu jenen Ländern geebnet wurden, die als problematisch gelten. Wir müssen das gesamte Für und Wider der amerikanischen Pläne abwägen, insbesondere die Gefahr der Militarisierung des Weltraums, die in der ursprünglichen Strategie der Republikanischen Partei in den USA als „Brilliant Pebbles“ fungiert.

Zu guter Letzt müssen wir uns fragen, ob es wirklich erforderlich ist, Milliarden von Dollars in ein System zu investieren, das Bedrohungen verhindern soll, die sich in der modernen Welt höchstwahrscheinlich in der Form begrenzter gewaltsamer Aktionen unter Einsatz primitiver (aber leider tödlicher) Technologie darstellen und nicht in der Form von Angriffen mit Interkontinentalraketen.

Raketenabwehr geht nicht an die Wurzeln internationaler Spannungen und nicht an die Wurzeln des Terrorismus überhaupt. Die hauptsächlichen Ursachen sind: ungleicher Zugang zu den natürlichen Ressourcen und ihre ungerechte Verteilung, die Abhängigkeit wirtschaftlichen Wachstums von nicht erneuerbaren Energien, große wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, unfaire Handelspolitik, Verletzungen der Menschenrechte, das Gefühl der Bewohner bestimmter Länder, missbraucht, misshandelt oder vom Rest der Welt vergessen worden zu sein, ethnische, religiöse und kulturelle Intoleranz, fehlende Bildung, fehlende Freiheit und viele andere Gründe, bis hin zu den psychischen Ursachen, die Menschen dahin treiben, Verzweiflungsakte zu begehen.

USA

Die neue US-Regierung unter Barack Obama wird die amerikanische Außenpolitik, soweit sie die Raketenabwehr betrifft, nicht revidieren (um so weniger, als der Verteidigungsminister wenigstens für eine kurze Zeit weiter Robert Gates heißen wird, der ein Befürworter des Projekts ist). Zur Zeit sieht es jedoch so aus, als werde die neue amerikanische Regierung an die Lösung internationaler Probleme differenzierter und weniger reaktionär herangehen als ihre Vorgängerin. Der neue Präsident steht der Raketenabwehr distanzierter gegenüber, insbesondere in Hinsicht auf ihre Wirksamkeit, die erst noch nachgewiesen werden muss. Weil der US-Kongress Ende letzten Jahres die Finanzmittel, die dem Aufbau der dritten Säule zugedacht waren, erheblich beschnitten hat, kann man auch damit rechnen, dass die Entwicklung und abschließende Platzierung des ganzen Systems sich um mehrere Jahre verzögert.

Die US-Regierung sollte sich vor allem darauf konzentrieren, die wahren Wurzeln internationaler Spannungen anzugehen und die multilaterale Dimension ihres Verhältnisses zu internationalen Regimes, Verträgen, Gesetzen und Prinzipien zu stärken. Man muss die Raketenabwehr nicht a priori ablehnen, aber sie sollte noch einmal eine Forschungs- und Entwicklungsphase durchlaufen, und man sollte die Zeit bis zu ihrer endgültigen Beurteilung für intensivere Bemühungen auf dem Feld der internationalen Diplomatie nutzen und sich sowohl mit der Zukunft der Raketenabwehr als auch mit ihrer Relevanz im Hinblick auf aktuelle Sicherheitsbedrohungen befassen. Ganz wichtig ist auch, dass die Europäische Union endlich anfängt, sich selbst mit dieser Sache zu befassen, und ein Signal aussendet, dass sie eine eigene, von allen ihren Mitgliedern getragene Außenpolitik hat.


Ondrĕj Liška ist Minister für Bildung, Jugend und Sport der Tschechischen Republik und Erster Vorsitzender der Tschechischen Grünen Partei.

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